Dorothee Asmus Timm

Dorothee Asmus-Timm arbeitet als tiefenpsychologische Psychotherapeutin. Im Interview mit confidimus erklärt sie, warum die Ursache für Essstörungen häufig in der Kindheit liegen, warum emotionales Essen Suchtcharakter hat und wie sie selbst versucht, ihrer Tochter einen bedürfnisorientierten Umgang mit Essen zu vermitteln.

Frau Asmus-Timm, Sie betreuen in Ihrer Praxis unter anderem Menschen, die an Essstörungen leiden und stellen häufig fest, dass bereits kindliche Erfahrungen ausschlaggebend für die Erkrankung sind. Können Sie uns einige Beispiele nennen?

Dorothee Asmus-Timm: Ja, es gibt zum einen Patienten, die bereits in früher Kindheit von den Eltern „auf Diät“ gesetzt wurden oder sogar Abnehmkuren durchlaufen haben. Dann gibt es andere Fälle, in denen die Kinder von den Eltern wenig Aufmerksamkeit bekommen haben. Für diese Kinder wurde Essen zum Tröster, der emotionale Lücken füllen sollte. Beide Extreme können sich im Erwachsenenalter in einer Essstörung manifestieren, übrigens in beide Richtungen. Es gibt Patienten, die der Erwartungshaltung der Eltern weiter entsprechen möchten und ihr Verhalten daran anpassen. Und es gibt Beispiele, in denen trotzig gegen die elterlichen Ansprüche rebelliert wird.

Sie beschreiben zwei Extreme: Kinder, die sich vernachlässigt fühlen und sich mit Essen trösten sowie Heranwachsende, die aufgrund von Übergewicht sehr restriktiv erzogen wurden. Warum prägen uns diese frühkindlichen Erfahrungen derart nachhaltig?

Dorothee Asmus-Timm: Im Erwachsenenalter trägt jeder von uns die elterlichen Ansprüche in sich. Wir sprechen vom unbewussten „Über-Ich“. Diese Instanz ist oft streng und arbeitet gegen unsere hedonistischen Wünsche. Hier sprechen wir von dem „Es“, das ebenfalls unbewusst in uns verankert ist. Wenn nun also eine Diskrepanz zwischen den elterlichen Ansprüchen und unseren kindlichen Wünschen entsteht, kommt es zu Spannungen und Konflikten in unserem Inneren, die wir weder rational verstehen noch einfach regulieren können. Daran scheitern auch viele Diäten: Das „Über-Ich“ möchte es schaffen, aber das „Es“ nicht. Natürlich geht es bei Essstörungen auch immer um wichtige, übergeordnete Themen wie Kontrolle oder Autonomie, aber auch um den Selbstwert.

Sie sagen, Essstörungen seien zum Teil schwerer zu therapieren als  Depressionen. Warum ist der Weg zurück zu einem normalen Essverhalten für die Betroffenen oft so lang und beschwerlich?

Dorothee Asmus-Timm: Weil es da um so viel mehr geht als „nur“ um das Thema Essen. Viel oder wenig zu essen erfüllt verschiedene Funktionen für die Patienten: Für viele ist es ein Beziehungsregulativ, um an Angehörige zu appellieren oder sie zu bestrafen. Nach dem Motto „Wenn Du mich ärgerst, esse ich nichts mehr“ oder „Sieh nur, deinetwegen verhungere ich“, „Du machst, dass mir schlecht wird“ oder auch „Du bestimmst nicht über mich“. Emotionales Essen ist aber auch ein Stück weit vergleichbar mit einer Drogensucht: Es wird eine belohnende Struktur im Gehirn aktiviert und die Betroffenen verfallen in einen regelrechten Rausch. Für dieses Gefühl muss ein Ersatz gefunden werden – und das ist gar nicht so leicht. Letztlich geht es natürlich auch viel um Gewohnheiten. Was früher gut war, kann heute nicht schlecht sein. Wir bleiben unseren Lieblingsspeisen oft ein Leben lang treu, denn sie machen uns glücklich. Das ist ganz normal – und muss ja auch nichts Schlechtes sein.

Ihre Tochter ist im Grundschulalter. Immer häufiger erkranken Kinder im selben Alter an einer Essstörung. Welche Faktoren führen aus Ihrer Sicht zu dieser besorgniserregenden Entwicklung?

Dorothee Asmus-Timm: Wirklich bedenklich sind für mich drei Faktoren: Zum einen der Umgang der Eltern mit dem Thema Essen und oft auch die Sicht auf den eigenen Körper. Wenn wir ständig an uns herumkritisieren, schauen sich die Kinder das ab. Stehe ich also vor dem Spiegel und bezeichne mich als „fett“, wird das meine Tochter vermutlich zunächst unkritisch übernehmen. Das tut sie auch bei allem anderen, was ich mache. Darüber hinaus beobachte ich, dass Freunde und Altersgenossen heutzutage schon sehr früh anfangen, zu hänseln oder zu mobben. Worte wie „schlank“ oder „dick“ sind inzwischen schon im Kindergarten geläufig. Unabhängig davon, ob Kinder diese Worte bei den Eltern aufgeschnappt haben oder selbst darauf gekommen sind – sie verletzen. Und dann sehe ich natürlich auch, dass die Medien sehr stark beeinflussen, was wir als schön oder hässlich, gut oder schlecht, dick oder dünn empfinden.

Warum sind diese medialen Vorbilder so problematisch?

Dorothee Asmus-Timm: Weil intelligente Lebensformen unter anderem viel am Modell lernen. Kinder beobachten ein Verhalten, sehen die Konsequenzen, beurteilen, ob die Konsequenz erstrebenswert ist und ahmen dann das Verhalten nach. Ein Beispiel: Die Mutter macht eine Diät und bekommt dafür Anerkennung. Die Konsequenz ist also positiv. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch das Kind früher oder später eine Diät anstrebt.

Wie vermitteln Sie Ihrer Tochter einen bedürfnisorientierten Umgang mit Lebensmitteln?

Dorothee Asmus-Timm: Bei uns zu Hause essen wir viele verschiedene Lebensmittel, oft planen wir auch den Einkauf zusammen. Jeder darf seine Vorlieben zur Einkaufsliste beitragen. Und jeder darf essen, was ihm guttut und schmeckt, wenn der Hunger sich meldet. Wenn meine Tochter abends lieber Porridge isst als ein Brot, dann ist das für mich völlig okay. Fertigprodukte und stark verarbeitete Lebensmittel kaufe ich allerdings selten.

Wir möchten Eltern ermutigen, ihren Kindern in puncto Ernährung zu vertrauen. Aus psychologischer Sicht: Warum macht das elterliche Vertrauen Kinder stark?   

Dorothee Asmus-Timm: Elterliches Vertrauen ist in allen Bereichen ein wichtiger Faktor. Grundsätzlich hilft es Kindern, selbstständig zu werden und Autonomie zu entwickeln. Kinder, die immer von außen reglementiert und eingeschränkt werden, beispielsweise beim Essen, tun sich schwer, eigene Entscheidungen zu treffen und dazu zu stehen. Oder sie verfallen in Rebellion gegen die Regeln. Das bedeutet aber nicht: Ab sofort ist Kindern alles erlaubt. Wichtig ist, offen miteinander zu kommunizieren und auch die eigenen Bedürfnisse anzusprechen.

Vielen Dank für das Gespräch!