Coach für intuitives Essen in der Familie

Sarah aus Köln ist Mama von zwei Kindern und hat für uns einen Erfahrungsbericht geschrieben. Ihr Fazit: “Ich würde meine Überzeugung gerne in die Welt schreien, in der Hoffnung, dass mehr Familien ihren Kindern vertrauen. Vielleicht ist dieser Bericht der erste Schritt und ermutigt andere Eltern, diesen Weg zu gehen. Es lohnt sich!”

Als Pädagogin habe ich immer wieder erlebt, wie viel (meist negativen) Raum das Essverhalten der Kinder bei den Eltern einnimmt. Panik in den Augen der Erwachsenen, wenn das Kind das Mittagessen verweigert oder der feste Entschluss, das Kleinkind möglichst lange von Zucker fernzuhalten, sind nur einige Beispiele.

Mir wurde klar: Wenn ich eigene Kinder habe, möchte ich, dass Essen ein positives Thema voller Genuss sein soll. Und dann kam der Moment als mein Erstgeborener bereit war für die Beikost und ich bereits in den ersten sechs Monaten meines Mutter-Daseins schon häufig mit meiner früheren (kinderlosen) Überheblichkeit konfrontiert wurde. „Besser machen als die anderen“- leichter gesagt als getan. Wo sollte ich ansetzen?

Im ersten Lebensjahr orientierte ich mich an dem Buch „Lotta lernt Essen“ von Edith Gätjen. Besonders der Leitsatz: „… die Eltern bestimmen, wann, wie und was gegessen wird, die Kinder aber bestimmen, ob und wie viel sie essen“ half mir. Damit liefen die Breizeit und der Übergang zum „richtigen Essen“ bei uns verhältnismäßig entspannt ab. Ich vertraute meinem Sohn und seinem Körper und konnte aus völliger Überzeugung auf „Hier kommt der Flieger- Spiele“ mit dem Löffel verzichten.

Doch schon in dieser Zeit spürte ich eine aufkeimende Unsicherheit bezüglich des Zuckerkonsums von Kindern. In der Babyabteilung sprangen mich unzählige Leckereien, häufig getarnt als zuckerfreie Varianten, an. Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Debatte über Zucker als Feind und Suchtmittel immer lauter. Wie alle anderen Eltern wollte ich natürlich nur das Beste für meinen Sohn. Doch was war das? 
Ihn fern halten vom verteufelten Zucker?

Andererseits: Gehören Schokolade und Eis nicht zu einer glücklichen Kindheit dazu?

Da ich mir diese Frage nicht beantworten konnte, begann ich gezielt, andere Eltern zu beobachten; in der Hoffnung, dass ich einen für mich passenden Weg finden würde. Schnell fiel mir auf, dass Schokolade und andere Süßigkeiten meist in Kombination mit einem Kommentar „Danach isst Du aber was Richtiges“ oder „Das ist heute mal eine Ausnahme“ begleitet wurden. Der für mich deutlich spürbare Widerspruch musste die Kinder noch stärker verwirren. Sind Schokolade und Co. „etwas Falsches“ oder etwas ganz Besonderes? Warum wird jedes einzelne Gummibärchen kommentiert, aber nicht die fünfte Apfelspalte oder die dritte Dinkel-Stange?

Besonders interessierte mich, wie andere Eltern die Süßigkeiten dosierten. Denn in meiner Vorstellung waren Süßigkeiten in Maßen okay. Ich ahnte allerdings schon, dass mein Sohn einen anderen Maßstab als ich haben könnte. Ich suchte eine Orientierung, die für meinen Sohn und mich vertretbar war, um einzuordnen, wie viel Zucker okay ist. Eine ideale Möglichkeit, Eltern und Kinder im Ausnahmezustand zu erleben, waren Kindergeburtstage.

Ich beobachtete Eltern, die an diesen Tagen jeglichen Süßigkeitenkonsum zuließen, um nach eigener Aussage Konflikte zu vermeiden (ich habe großen Respekt vor dieser Ehrlichkeit). Meistens konnten sie sich den oben erwähnten „Ausnahmesatz“ allerdings nicht verkneifen. Die Kinder wussten ihre Ausnahme zu nutzen und hatten innerhalb kürzester Zeit unglaubliche Mengen von jeder angebotenen Süßigkeit verschlungen. Deutlich angestrengter wirkte der Tag für die Art Eltern, die sich bewusst gegen Zucker für ihre Kinder entschieden hatten. Die Kinder versuchten unermüdlich, mehr oder weniger erfolgreich und mehr oder weniger clever, ein Stück Kuchen oder ein Gummibärchen zu erhaschen. Die Eltern versuchten erfolglos ihrem wütenden Sprössling zuckerfreie Alternativen anzubieten.

Die dritte Gruppe Eltern war mehrheitlich vertreten: Sie waren mit etwas Kuchen und Naschen einverstanden, stoppten jedoch irgendwann die Zufuhr, meist mit vorbildlicher, pädagogischer Ankündigung: „Noch drei Gummibärchen, dann ist Schluss.“ Ja, dieser Ansatz gefiel mir, so könnte ich mich auch verhalten. Doch leider reagierten die Kinder weder verständnisvoll noch einsichtig und verliehen ihrer Wut über die Begrenzung lautstark, und je nach Temperament, erschreckend heftig Ausdruck. Zum Ende eines solchen, für alle beteiligten anstrengenden Tages, waren sich die Eltern meist einig, dass der Zucker Schuld ist am Verhalten der lieben Kleinen.

Der Einzige, der völlig unbeteiligt und unberührt von so einem Feuerwerk der Emotionen blieb, war der zuckerfreie Dinkelkuchen, denn er stand unbeachtet am Rand.

Mich überschwemmten erste Zweifel, ob der Zucker tatsächlich Schuld am aufbrausenden Verhalten der Kinder war. Denn gleichzeitig wurde er häufig als Belohnung oder Tröster eingesetzt und damit doch besonders hervorgehoben. Ich war entsetzt über meine Beobachtungen und bekam das Gefühl, dass ein entspannter Umgang mit Gummibärchen und Co. kaum möglich war. Nach einem anstrengenden Tag stellte ich mir das zukünftige Essverhalten unserer Kinder in einer (zugegeben) etwas düsteren Zukunft vor.

Ich sah die „Ausnahmekinder“, die sich ihr Leben lang an besonderen Anlässen maßlos überfressen. Die zuckerfrei erzogenen Kinder stellte ich mir vor meinem inneren Auge als „heimliche Stopfer“ mit konstant schlechtem Gewissen vor. Und jene Kinder, bei denen die Eltern nach (für mich und wahrscheinlich auch für die Kinder) nicht ersichtlichen Kriterien die Süßigkeiten begrenzten – ja, wie würden die sich entwickeln? Vielleicht jede Möglichkeit zum „Voressen“ nutzen, aus Angst, sie könnten nicht genug bekommen? Und würden sie später in einem Teufelskreis von Diäten und Jo-Jo-Effekten hängen bleiben?

Ich sah meinen Sohn an, der zufrieden an seiner Möhre lutschte und wusste, dass ich es für ihn anders, sprich besser machen wollte.

Nur hatte ich keine Idee, wie ich es praktisch umsetzen sollte. Vorbei waren alle positiven Gedanken zum Essverhalten meines Sohnes. Ich wollte, wie alle Eltern, nur das Beste für meine Kinder und spürte eine ähnliche Unsicherheit und Hilflosigkeit, die viele Eltern beschreiben.

Eine Nacht Schlaf und der Sonnenschein am nächsten Tag ließen mich wieder voller Zuversicht auf meine Mission schauen. In dem Buch „Intuitiv abnehmen“ von Elyse Resch und Evelyn Tribole fand ich interessante Denkanstöße. Die vereinfacht zusammengefasste Ansicht, dass Kinder intuitiv das essen, was ihr Körper braucht, wenn man sie lässt, fand ich in der Theorie sehr nachvollziehbar.

Eine enge Freundin beschäftigte sich schon seit einiger Zeit mit dem Thema intuitive Ernährung. Im Austausch mit ihr wurde mir bewusst, was ich mir für meinen Sohn (genannt Kröte) wünschte: einen entspannten, natürlichen und genussvollen Umgang mit Lebensmitteln – egal welcher Art. Doch wie konnte ich das erreichen? Dank viel Zuspruch und Ermutigung durch meine Freundin beschloss ich, ein Experiment zu wagen.

Es gab nur zwei Regeln:

1. Vertraue Deinem Kind und seinem Essverhalten in allen Bereichen. Dies betraf Auswahl, Menge und auch den Zeitpunkt des Essens.

2. Bewerte Lebensmittel in keinster Weise.

Blöderweise war es Dezember und ich vergaß eine wichtige Komponente einzuplanen: Die Vorweihnachtszeit begann!

Kröte war zu Beginn des Experimentes fast 1,5 Jahre alt, probierte all die Dinge, die wir ihm anboten und hatte Schokolade bisher sehr sporadisch kennengelernt. Das änderte sich schlagartig an Nikolaus. Von unterschiedlichen gut gemeinten Stellen (Nachbarn, Großeltern, dem Nikolaus selber) wurde der Schokoladenvorrat unseres Haushaltes rasant aufgefüllt. Das Ausmaß der in Glitzer-Papier verpackten Leckereien konnte problemlos mit der Auslage eines Supermarktes konkurrieren.

Ich spürte, dass mein Forscherdrang geweckt war. Ich war neugierig und gespannt auf die Dauer, den Verlauf und den Ausgang des Experimentes, das den heimlichen Titel „Schokolade non-stop“ bekam. Alle vorhandenen Leckereien wurden in eine Schüssel gefüllt und gut sichtbar in einer für Kinder zugänglichen Höhe deponiert. Der Nikolausabend verlief ähnlich wie die beschriebenen Kindergeburtstage. Die anwesenden Kinder ignorierten die liebevoll zubereiteten Speisen und stürmten, nur gebremst von kurzen Spielpausen, zu den Süßigkeiten. Ich gratulierte mir innerlich, dass ich mittlerweile eine (probeweise) klare Haltung gefunden hatte. Aber ehrlich gesagt fragte ich mich gleichzeitig, wie ich dem Kinderarzt die plötzlich auftretende Diabetes-Erkrankung erklären würde…

Am nächsten Morgen war der Frühstückstisch wie üblich gedeckt; bis auf die Schokoladen-Schüssel, denn die stand immer noch gut sichtbar und erreichbar am selben Ort. Kröte bekam große Augen und ich aß (zumindest äußerlich) unbeeindruckt mein Müsli, während er 12 Stück Schokolade verspeiste. Im Laufe des Tages griff er immer wieder beherzt zu, vereinzelt befreite er auch Schokolade von der Folie und ließ den Inhalt liegen. Mittags aß ich wieder alleine die gekochte Mahlzeit, während er sich querfeldein durch die Schokoladenauswahl futterte. Ob ich es wollte oder nicht, als Mutter überschlug ich abends, was er außer Schokolade zu sich genommen hatte. Da bleib nicht viel…

Der zweite Tag begann identisch: große Augen und mit Vollgas auf die Süßigkeiten. Während er sich mit klebrigen Fingern den dritten Weihnachtsmann in den Mund schob, entdeckte er in der Schüssel ein Tütchen mit Rosinen. Die aß er mit Begeisterung und widmete sich danach dem Obstteller auf dem Frühstückstisch.

Im Laufe des Tages aß er immer wieder eine Süßigkeit, packte Engelchen und Nikoläuse aus, steckte Schokolade in den Mund und…was war das? Er spuckte sie wieder aus. Nachdem er dies mehrmals wiederholte, bekam ich den Eindruck, dass nach einem Geschmackstest die Süßigkeit nicht als angemessen empfunden wurde. Oder langweilte ihn der Geschmack?  Diese Frage wird er mir wohl nie beantworten. Ich faltete ihm das bunt glänzende Papier, das ihn scheinbar mehr beeindruckte als der Inhalt. Mit diesem Spielzeug in der Hand blieb die Schokolade den Rest des Tages unbeachtet.

Der dritte Tag begann weder mit großen Augen noch mit Süßigkeiten zum Frühstück: Er wünschte sich sein Müsli. Im Laufe des Tages wählte Kröte dreimal eine Süßigkeit aus. Wieder konnte ich beobachten, dass er sie auspackte, probierte und liegen ließ. Äußerlich hielt ich mich an die Regel und bewertete dieses Verhalten in keinster Weise.

Zum Glück sind die Gedanken frei und so konnte mein besorgtes Mutterherz innerlich ein Jubelfeuerwerk loslassen.

Die Skepsis der ersten Tage fiel ab und ich spürte eine große Zuversicht, dass dieses Experiment der richtige Weg war. Am vierten Tag weckten die Süßigkeiten das gleiche Interesse wie die sonst dargebotenen „gesunden“ Snacks. Nachdem er an Tag fünf und sechs gar nicht oder nur wenig naschte, erklärte ich das Experiment als abgeschlossen und für alltagstauglich.

Seither stehen Süßigkeiten, wie andere Lebensmittel auch, sichtbar und frei zugänglich bereit. An manchen Tagen greift er mehrmals zu, manchmal ist es völlig uninteressant. Genauso geht er mit Obst, zuckerfreien Waffeln oder Nudeln um. Seine Auswahl wirkt auf mich sehr bewusst und ich habe das Gefühl, dass er das wählt, was sein Körper braucht. Er liebt wie viele Kinder Eiscreme, doch erst kürzlich lehnte er ein Eis mit der Erklärung „satt“ ab.

Mein Vertrauen in meinen Sohn und seinen Körper wurde bis heute einige Male auf die Probe gestellt. Beim Plündern seiner ersten, selbstgesammelten Karnevalstüte ernährte er sich zwei Tage lang fast nur von Weingummi. Ich begann den Fehler und zählte die leeren Tütchen beim Entsorgen. Spitzenwert: 14 Tütchen am Stück! Doch ich sehe immer wieder, dass es sich lohnt, wertungsfrei zu agieren und den Kindern zu vertrauen – ja sogar, von ihnen zu lernen.

Am dritten Tag bewunderte ich, dass er sich aus einem Mini-Tütchen zwei Gummibärchen fischte und die anderen liegen ließ. Ich bezweifle, dass ich so bewusst gegessen hätte, nein, ich bin mir sicher, ich hätte die letzten drei Bären auch gegessen.

Nun ist Kröte schon über zwei Jahre alt und ich stehe jeden Tag mehr hinter meiner Entscheidung, ihn „frei essen“ zu lassen. Während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, wie sein aktueller Süßigkeitenkonsum wohl zu beziffern ist. Ich freue mich wahnsinnig darüber, dass ich dies gar nicht so bewusst beschreiben kann und bin stolz, wie sehr mein Vertrauen zu ihm und seinem Körper gewachsen ist.

Um diesen Erfahrungsbericht jedoch mit einem (nicht empirisch oder irgendwie belegtem) Langzeitergebnis abzuschließen, beobachtete ich ihn nochmals ganz bewusst: Kröte sitzt also am Tisch und ich fülle ihm den Teller mit einer liebevoll zubereiteten Mahlzeit. 
Er entdeckt währenddessen auf einem Regal bunte Schoko-Drops, nach denen er verlangt. 
Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass mich das kalt ließe. Die Enttäuschung darüber, dass er die Schokolade meiner frischen Mahlzeit vorzieht, behalte ich für mich.

Mittlerweile darin geübt, meinen ersten Impuls, ihn zum „richtigen Essen“ anzuhalten, zu unterdrücken, hole ich also die Schoko-Drops vom Regal. Er isst voller Genuss und mit Begeisterung zwei bunte Drops, widmet sich dann aber dem angebotenen Abendessen und mein Mutterherz hüpfte vor Freude (aber nur innerlich).

Bemerkenswert finde ich auch die Einschätzungen anderer Eltern und Großeltern, dass Kröte kein „süßer Esser“ sei. Zu ungewohnt erscheint das Verhalten, dass ein Kind Süßigkeiten ablehnt, die es geschenkt bekommt oder sein halbes Eis der Mutter gibt. Aber: Ich sehe mein Kind auch zwei von drei Hauptmahlzeiten durch Kuchen ersetzen oder einen vierten Eis-Nachschlag verlangen. Ich bin überzeugt davon, dass Kröte ein intuitiver Esser ist und bleibt. Ich erfreue mich immer wieder, dass Essen in unserer Familie tatsächlich ein positives und genussvolles Thema ist, frei von Konflikten (es sei denn, es wird als Wurfgeschoss genutzt oder unter der Couch versteckt).

Ich würde meine Überzeugung gerne in die Welt schreien, in der Hoffnung, dass mehr Familien sich trauen, ihren Kindern und deren Körper zu vertrauen. Doch wie kann man das zwischen Schaukel und Klettergerüst erklären? Vielleicht ist dieser Bericht der erste Schritt und ermutigt andere Eltern, sich auf diesen Weg einzulassen oder ein Experiment zu wagen.

Es lohnt sich!