Intuitiv essen in der Kita

„Ich bin okay. Du bist okay.“ Das ist das Credo von Nicole B. Sie leitet die Kita Kids & Co. Kreuzwiesen in Zürich – und sie hat Katharina eingeladen, einen Vormittag lang ihre Arbeit zu begleiten. Die Zeit “bei Tisch” hielt viele Glücksmomente bereit. Ein Erfahrungsbericht.

Denn bei Kids & Co ist vieles anders. Beim Essen geht es gelassen, entspannt und friedlich zu. Sätze, wie „Zuerst wird aufgegessen, dann darfst Du mehr haben“ oder „Nur wenn Du den Apfel isst, bekommst später einen Keks“ wird man bei Tisch nicht hören. Zum Glück!

Für Nicole B. steht die Atmosphäre am Tisch im Vordergrund. Essen soll etwas Schönes sein. Was zählt, ist die Gemeinschaft, dass die Kinder zusammenkommen, sich austauschen, lachen, sich unterhalten. Bei Kids & Co. werden schöne Tischmomente geschaffen. Dazu gehört immer die Wertschätzung für das Essen, schöne Tischgespräche und eine liebevolle Tischdekoration. Nicole B. erzählt mir, dass sie lange auf der Suche war nach einem Kita-Essenskonzept, hinter dem sie steht. Bei Kids & Co. fühlt sie sich angekommen.

Aber zurück zu den Mahlzeiten: Bevor die Kinder an den Tisch kommen, wird für jedes Kind der Teller liebevoll angerichtet. Das Prinzip: von allem etwas! Die Kinder erwartet stets ein bunter Teller. An meinem Hospitationstag durften sie sich über Rüebli, Mais, Nudeln und Hackfleischsoße freuen. Sitzen alle Kinder beisammen, darf losgelöffelt werden. Die Kinder entscheiden, was sie vom Teller essen möchten – und was nicht. Lehnen sie etwas ab, wird dies nicht kommentiert, sondern akzeptiert. Wollen die Kinder mehr – egal wovon – dürfen sie sich selbst auffüllen.

Es wird deutlich spürbar: Hier sind die Kinder frei in ihren Entscheidungen.

Es wird keinerlei Druck aufgebaut. Auf die Vermittlung, was nun besonders „gesund“ oder eher „ungesund“ ist, verzichten die Erzieherinnen. Und ich denke schon wieder: Zum Glück! Für mich ist es spannend, zu beobachten, dass die Kinder keineswegs einseitig essen. Im Gegenteil: Sie können neugierig Unbekanntes testen, oder auch auf Bekanntes vertrauen. Je nach Kind – und je nach Tagesform.

Nachdem ich im positiven Sinne fassungslos bin, wie reibungslos das Essen abläuft, sagt mir Nicole B. schmunzelnd, dass ich gerade ein ausgesprochen harmonisches Essen erlebt habe und dass dies nicht immer der Fall ist. Manchmal muss sie doch eingreifen und den Kindern zum Beispiel erklären, dass sie nicht noch mehr Würstli essen können, da sonst die anderen Kinder nicht genug haben. Und dass sie daher mit etwas anderem ihren Hunger stillen müssen.

Wobei Nicole B. auch gelassen bleibt, wenn es mal nur das Würstli und nichts anderes sein soll: „Dann ist das so. Ein anderes Mal isst das Kind dann wieder mehr Obst und Gemüse. Manche mögen den Salat irgendwann, andere gar nicht. Wir vertrauen darauf, dass die Kinder sich nehmen, was sie brauchen.“ Studien unterstützen diese Haltung. Kinder, die aus einem breiten Lebensmittelangebot wählen können, ernähren sich ausgewogen und bedarfsgerecht.

Wenn einmal wirklich gar nichts für ein Kind dabei ist, werden ihm Brot oder Maiswaffeln angeboten. Denn Nicole B. ist es wichtig, dass kein Kind hungrig den Esstisch verlassen muss. Aber: Sie ist auch dafür, dass Kinder eigene Erfahrungen machen, um daraus zu lernen. Wie fühlt es sich an, zu wenig zu essen und dann zu spüren: Hoppla, jetzt bin ich aber doch sehr hungrig! Diese Erfahrungen sind sehr viel wertvoller als der ständige Versuch, an den Verstand zu appellieren. Da sind Nicole B. und ich uns absolut einig.

Grundsätzlich ist es Nicole B. ein Anliegen, dass über Essen nicht „gepredigt“ wird. Der Fokus liegt auf dem Erleben. Sei es, dass die Kinder beim Zubereiten helfen, sei es, dass sie sich selbst Essen auffüllen dürfen oder, dass sie auf dem Markt oder Bauernhof mit natürlichen Lebensmitteln in Kontakt kommen: Die Kinder erfahren Lebensmittel mit allen Sinnen. Statt penibel auf Tischmanieren zu schauen, dürfen die Kinder ihr Essen auch mit den Händen anfassen und so beispielsweise Quinoa buchstäblich „erfühlen“.

Als Mutter frage ich mich, was wohl den Eltern berichtet wird, wenn sie ihre Kinder am Nachmittag abholen.

Was kann man ihnen sagen, wenn das Essen nicht strikt protokolliert wird? Die Antwort von Nicole B. geht mir ans Herz. „Wir berichten, was das Kind am Tag erlebt hat, welche neuen Erfahrungen es gemacht hat. Wir erzählen, wenn das Kind besonders ausgiebig getobt hat, wenn es mit Hingabe in Pfützen gesprungen ist oder ausgelassen gespielt hat.“ Mir wird schmerzhaft bewusst, wie wenig ich über die Kita-Zeit meiner Söhne weiß. Nicht nur den Kindern, auch den Eltern nimmt Nicole B. hier den Druck. Ihr Beweggrund: Sie möchte Eltern nicht mit der Essens-Thematik belasten, der Druck sei bei diesem Thema ohnehin schon groß genug. Sie vermittelt Eltern, dass sie darauf vertrauen können, dass das Kind das isst, was es braucht. Aber sie verspricht gleichzeitig: Wenn etwas nicht in Ordnung ist, erfahren Sie es, liebe Eltern! Ansonsten dürfen Mama und Papa auf das Kind vertrauen.

Ihre wunderbare Haltung manifestiert sich in einer Aussage, die sich mir eingeprägt hat: „Ich bin okay. Du bist okay. Es ist okay.“

Ich spüre Freiheit, Leichtigkeit und Gleichberechtigung – und denke zum wiederholten Male an diesem Vormittag: Was für ein Glück!

Beim Thema Zucker wird Nicole B. dann aber doch etwas nachdenklich. Süßes gibt es in der Kita selten. Aber Verbote lehnt sie klar ab. Ihr ist ganz wichtig, dass alle Lebensmittel gleichgestellt wahrgenommen werden, dass es keine Hierarchie und auch keine „Wenn…dann…“-Sätze gibt. Dafür erntet sie teilweise Unverständnis. Etwas scherzhaft sagt sie mit Blick auf die große Angst vor Zucker: „Wenigstens haben die Eltern nicht mehr so viel Sorge, dass zu viel Fett gegessen wird.“ Denn auch sie gibt zu: Es herrscht Druck. Druck auf Eltern, Druck auf Erzieher, medialer Druck, moralischer Druck. Druck, der von Ärzten aufgebaut wird. Druck von neuen Mitarbeiterinnen, vom privaten Umfeld oder von anderen Kitas. Mit diesen redet sie über das Thema Essen daher auch nicht gerne. Doch sie selbst hat mit Kids & Co. ihren Weg gefunden.

Die Kinder danken es ihr. Das hat die friedliche, fröhliche Atmosphäre am Tisch ganz klar gezeigt.

Auch ich bin dankbar. Für diese Erfahrung, die mir gezeigt hat, dass es auch „anders“ geht – ohne Druck oder Bevormundung, sondern achtsam und gelassen. Nicole B. hofft, dass die gesellschaftliche Entwicklung in diese Richtung weitergeht. Mit ihrer Arbeit in dieser wunderbaren Kita leistet sie dafür schon heute einen größeren Beitrag, als ihr vielleicht selbst bewusst ist.