Dagmar Pauli

Dagmar Pauli ist Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und arbeitet täglich mit essgestörten Jugendlichen. Mit Katharina hat sie darüber gesprochen, warum es falsch ist, Lebensmittel zu verteufeln und wie Kinder lernen, ihre Emotionen zu regulieren.

Ein spannendes Interview über die Gründe, warum Essstörungen entstehen und weshalb positive Bestätigung so wichtig ist, um Kindern ein gesundes Selbstwertgefühl zu vermitteln. Über die Auswirkungen von rigiden Einstellungen zum Thema Ernährung und einer Gesellschaft, die verlernt hat, normale Körperformen schön zu finden.

Frau Pauli, in Ihrem Buch Size Zero schreiben Sie, dass wir als Gesellschaft verlernt hätten, normale Körperformen schön zu finden und dass dabei auch der Einfluss im Elternhaus eine Rolle spielt. Inwiefern?

Dagmar Pauli: Es ist ja so, dass die heutigen Mütter und Väter auch schon mit einem gewissen Schlankheitsdruck aufgewachsen sind. Denn das gesellschaftliche Ideal vom Schlanksein gibt es bereits seit den 60er- und 70er-Jahren. Das ist also ein längerfristiges Phänomen, das die heutige Elterngeneration auch schon in ihrer Jugend begleitet hat. Und das geben sie jetzt 1:1 in ihren Familien weiter. Heute beschäftigen sich Kinder schon im Primarschulalter damit, dass sie nicht gesund essen und dass sie sich eigentlich mehr bewegen müssten – also eigentlich Dinge, die Kinder intuitiv machen und noch gar nicht so bewusst in Frage stellen sollten. Natürlich spielt da der Einfluss des Elternhauses eine Rolle. Am Esstisch wird über Diäten gesprochen und natürlich hören die Kinder zu, wenn die Eltern sagen: Das hat so und so viele Kalorien, davon essen wir lieber nicht so viel. Das ist uns allen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir es den Kindern wie selbstverständlich vorleben.

Dabei handeln Eltern ja eigentlich mit den besten Motiven: Sie möchten den Kindern vermitteln, was gesund ist.

Richtig. Unrealistische Körperideale sind das Eine. Das andere Thema ist die ungesunde Einstellung zum Thema Ernährung. Es wird ja überall gefordert, man müsse den Kindern doch beibringen, was ist gesund und was nicht. Dazu kommt jetzt die Diskussion um die Lebensmittelampel. Das läuft aus meiner Sicht genau in die falsche Richtung. Die Verteufelung von Lebensmitteln oder Bestandteilen als schlecht, per sé, das ist völlig falsch. Der Körper braucht Fett und Zucker ist auch nicht schlecht. Es kommt auf eine gute Zusammensetzung an. Es gibt genügend Studien, die untermauern, dass der Mensch sich ausgewogen ernähren kann – ohne ständig darüber nachdenken zu müssen. Man kann Kindern und auch Erwachsenen durchaus zumuten, zu spüren, was die richtige Zusammensetzung ist. Dazu braucht es einfach nur ein reichhaltiges Nahrungsangebot und eine vielfältige Ernährungsweise. Dann kommt das eigentlich automatisch.

Vor allem Zucker wird ja seit einiger Zeit extrem verteufelt. Wie beurteilen Sie das?

Wir wissen, dass viele Menschen eine angeborene Präferenz für Süßes haben. Das ist ja schon bei Neugeborenen so. Man sollte deshalb nicht zu viel Süßes anbieten, weil es Kinder gibt, die davon dann zu viel essen. Das sollten Eltern schon steuern. Aber trotzdem: Es muss ein vielfältiges Nahrungsangebot geben und Süßes sollte auf keinen Fall verteufelt werden. Kinder müssen nicht erst die gesunden Sachen essen, damit sie danach den Nachtisch haben dürfen. Aber es gibt vielleicht nicht jeden Tag drei Eis, sondern nur eine Portion am Nachmittag. Alles in einem gesunden Maß. Und dann werden Kinder eigentlich nicht dick.

Trotzdem ist das Thema Ernährung in vielen Familien problembehaftet. Was macht es mit Kindern, wenn rigide Regeln die Essgewohnheiten bestimmen?

Ich glaube, dass es ganz wenige Kinder gibt, die wirklich konsequent mit rigiden Empfehlungen und Verboten aufwachsen. Die meisten Erwachsenen verhalten sich ja so: Sie reden einerseits die ganze Zeit darüber, dass man nicht fettig und nicht süß essen soll, tun es aber trotzdem. Die Kinder haben also de facto den Zugang zu diesen eher ungünstigen Lebensmitteln, kriegen aber die ganze Zeit gesagt, es sei schlecht. Dadurch steigt natürlich die Lust nur noch mehr. Eltern, die streng mit dem Thema Ernährung umgehen, sind in den meisten Fällen sehr gesundheitsbewusst und schlank. Manche Kinder geraten mit den Eltern in Konflikt, weil sie immer mehr Lust auf verbotene Dinge entwickeln. Ich habe schon Familien erlebt, wo die Eltern sehr schlank waren und das Kind dick wurde. Das ist für die Eltern ein Drama, obwohl das Kind vielleicht nicht massiv übergewichtig ist, sondern nur leicht pummelig. Da würde eine andere Familie wahrscheinlich gar kein Thema mit haben. Also geht der Schuss auch oft nach hinten los. Es ist nicht so, dass Kinder sich wirklich gut ernähren, wenn man ihnen Süßigkeiten komplett verbietet. Meistens essen sie diese Dinge dann heimlich.

Also raten Sie Eltern, nichts zu verteufeln und gelassen zu bleiben, wenn Kinder vermehrt zu fettigen oder süßen Lebensmitteln greifen?

Ich werbe ja nicht dafür, dass man mehr Fettiges und Süßes essen soll. Nach dem Motto: Es macht doch nichts, wenn die Kinder dick sind. Das ist nicht mein Punkt. Aber ich denke: Wenn Eltern diese Lebensmittel nicht so verteufeln, dann stehen sie auch gar nicht so sehr im Fokus der Kinder. Und dann entwickeln sie auch kein Übergewicht. Denken Sie mal an die Adipositas-Prophylaxe. Das ist eigentlich eine gute Sache, die läuft nur ganz falsch. Man denkt, dass kognitive Kontrolle nützt, aber eigentlich schadet sie nur. Das ist belegt.

Oft ist es ja auch so, dass Eltern die Kinder beim Essen eher unbewusst manipulieren. Dadurch verlieren die Kinder die Offenheit, bestimmte Dinge zu essen…

Genau, Eltern führen dann oft einen Machtkampf mit ihren Kindern. Oder versuchen mit Druck oder Belohnung das Kind dazu zu bewegen, bestimmte Dinge zu essen. Das bewirkt oft das Gegenteil. Ich glaube, viele Eltern denken da zu kompliziert.

Wie kann es gelingen, dass Eltern eine neue Haltung zum Thema Ernährung einnehmen?

Ich glaube, man muss zunächst seine eigene Einstellung zum Essen überprüfen. Sonst wird es nicht funktionieren, weil man zu sich selbst kein Vertrauen hat und weil die natürliche Einstellung zum Essen fehlt. Der erste Schritt ist also zu versuchen, sich selbst zu akzeptieren, wie man ist und aufhören, die ganze Zeit über das Essen nachzudenken. Wenn ich also bei mir selbst anfange und überprüfe, ob mein Ernährungsverhalten gesund ist, in dem Sinne, dass ich ihm nicht zu viel Bedeutung beimesse, nicht zu viel darüber nachdenke, dass ich versuche, regelmäßig, ausgewogen und mit Freude zu essen und nicht ständig Diät halte, dann bin ich ein gutes Vorbild. Und das hilft schon mal.

Aber Vertrauen in sich ist ja nur der erste Schritt. Vertrauen zu erfahren ist aus Expertensicht für Kinder sehr wichtig, um resilient, also innerlich stark, zu werden.

Ja, dazu braucht es aber vor allem eine gute Beziehung, das ist das Allerwichtigste. Denn auf einer guten Beziehungsgrundlage kann ich dann auch Vertrauen haben. Aber auch hier spielt die Vorbildfunktion wieder eine wichtige Rolle. Wenn ich ein gutes Vorbild lebe, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass das Kind da mitmacht. Viele Eltern haben ja beispielsweise einen riesen Stress mit der Frage: Wie kriege ich mein Kind dazu, Gemüse oder etwas Gesundes zu essen? Dabei lernen die Kinder das von selbst, wenn man ihnen keinen Druck macht und wenn sie aus einem vielfältigen Angebot wählen können. Wer aber sagt: Erst Gemüse essen und dann kriegst Du die Süßigkeit, der steigert natürlich die Präferenz für Süßes und die Vorliebe für das Gemüse sinkt. Denn das Gemüse ist die Strafe und das Süße ist die Belohnung. Das ist die falsche Botschaft.

Was raten Sie, stattdessen zu tun?

Eltern könnten sagen: Das Gemüse schmeckt auch gut, aber wenn Du es jetzt noch nicht essen willst, kannst Du vielleicht ab und zu mal probieren. Oder Eltern bieten zunächst Gurke und Tomaten an, das essen Kinder für gewöhnlich ja gerne und dann kommt erst später anderes Gemüse dazu. Mit der Zeit probiert das Kind dann vielleicht auch mal den Brokkoli…

Ein anderer wichtiger Punkt ist das Essen aus emotionalen Gründen, das ja häufig ursächlich für Übergewicht oder das Auftreten einer Essstörung ist. Was können Eltern tun, um vorzubeugen, dass Essen nicht als Ventil für unerfüllte Bedürfnisse genutzt wird?

Das Wichtigste ist, dass man lernt, Emotionen anders auszudrücken und zu regulieren. Ich darf meine Gefühle zeigen. Ich lerne, meine Probleme zu lösen. Was mache ich, wenn ich traurig bin? Ich esse dann keine Schokolade, sondern ich erzähle es Jemandem und gemeinsam finden wir eine Lösung. Es geht also darum, Emotionen zu regulieren und dem Kind zu helfen, dass es mit der Zeit lernt, sich selbst zu regulieren. Das kommt dann, wenn die Kinder älter werden, im Jugendalter. Dem einen hilft es, Musik zu hören oder rauszugehen. Das ist ja ganz unterschiedlich, wie die Menschen reagieren. Aber wichtig ist, dass diese Regulation nicht über das Essen stattfindet.

Dazu braucht es aber auch ein hohes Selbstwertgefühl…

Ja, das ist ganz wichtig. Aber es ist auch völlig normal, dass die meisten Kinder damit irgendwann Probleme haben. Es gehört zum Leben dazu, dass man sich mal nicht so toll fühlt oder dass man etwas nicht gut kann. Da sollten Eltern ein offenes Ohr haben und Unterstützung anbieten und das Kind immer wieder auf die Dinge aufmerksam machen, die es gut kann. Also positive Bestätigung geben. Zum Beispiel wie es lacht oder wie liebenswert es ist. Wenn Eltern das Selbstwertgefühl auf verschiedene Arten fördern, hilft das natürlich, dass Kinder nicht anfangen, Kummerspeck anzusetzen. Denn nichts anderes verbirgt sich hinter Emotional Eating.

Was wappnet Kinder am besten davor in eine Essstörung zu rutschen? Kann ein gesundes Selbstvertrauen sie davor schützen, sich selbst optimieren zu wollen, sei es durch Sport oder ein auffälliges Essverhalten?

Das würde ich so unterschreiben, ja. Meistens fängt es mit einer Diät an. Da gibt es dann diese Vorbilder bei Germany’s Next Topmodel und dann essen die Freundinnen auch nur Salat – und plötzlich fängt man damit selbst an. Hier ist meiner Ansicht nach das Selbstwertgefühl das A und O, dass man das Kind darin unterstützt und bestätigt, dass es sich Selbstbestätigung nicht über einen möglichst dünnen Körper holt. Aber auch wenn man alles richtig macht als Eltern, kann es trotzdem sein, dass ein Kind in eine Essstörung reinrutscht. Denn es spielen ja viele Faktoren in der Entstehung einer Essstörung mit. Am Anfang können Eltern noch „Stopp“ sagen, im Sinne von: Wir essen wieder alle gemeinsam und mit Deiner Diät machst Du jetzt Schluss. Wenn dann aber ein Machtkampf entsteht, muss man sich fachliche Hilfe suchen. Was Eltern dann aber auf keinen Fall tun dürfen: sich schämen und denken: Oh je, jetzt habe ich alles falsch gemacht, mein Kind hat eine Essstörung!

Neben der Scham plagen viele Eltern sicher auch immense Schuldgefühle.

Ja natürlich. Aber ich bin ganz fest der Meinung, dass Eltern nicht Schuld sind an der Essstörung. Auch wenn wir darüber diskutiert haben, dass das Schlankheitsideal in der Gesellschaft und auch in den Familien sehr präsent ist: Das ist nicht der einzige Faktor, warum eine Essstörung entsteht. Das ist sehr vielfältig und wir versuchen die Eltern von Schuldgefühlen zu entlasten, indem wir sagen: Das ist komplex und hat auch mit genetischer Veranlagung oder bestimmten Charaktereigenschaften wie beispielsweise Perfektionismus oder einer gewissen Rigidität zu tun. Das sind Eigenschaften, die dann dazu führen können, dass sich aus einer Diät die klinische Essstörung entwickelt.

Neben den Diäten gibt es ja inzwischen auch zahlreiche Abnehmprogramme, die speziell junge Menschen als Zielgruppe haben. Da wird dann beispielsweise sechs Tage lang eine strenge Diät gehalten und am siebten Tag ist alles erlaubt.

Das ist ganz schlimm und ganz falsch! Das ist eigentlich das Schlimmste, insbesondere bei jungen Menschen, weil das Risiko für sie besonders hoch ist, eine Essstörung zu entwickeln. Durch das Hungern kann es zu Essattacken mit Kontrollverlust kommen oder aber der Gewichtsverlust wird zu schnell und kann dann nicht mehr aufgehalten werden – die Jugendlichen kippen in eine Magersucht. Auch für Erwachsene sind solche Programme häufig der falsche Weg, weil die meisten Menschen danach dicker werden als vorher. Der Körper stellt sich während einer Hungerphase um, das ist evolutionär auch sinnvoll. Der Stoffwechsel passt sich an, damit danach, wenn wieder ausreichend Nahrung zur Verfügung steht, die Kalorien besser verwertet werden und schneller Fett angesetzt wird. Das ist ja logisch, oder? Die Menschen früher hatten sehr wenig zu essen, deshalb war es wichtig, rasch wieder zuzunehmen. Und dafür sorgt der Körper. Nach einer Diätphase von mehreren Wochen kann es bis zu einem Jahr dauern, bis sich der Stoffwechsel wieder normalisiert hat. Vorübergehende Nahrungsumstellungen sind also bei den allermeisten Menschen kontraproduktiv.

Es ist nur schwer nachvollziehbar, dass wir in den Medien jeden Tag Dinge lesen, die in eine ganz andere Richtung gehen…

Das verstehe ich auch nicht. Aber Sie müssen bedenken: Das Geschäft mit dem Gewichtsverlust ist ein ganzer Industriezweig: Diäten, Schlankheitspillen, aber auch Schönheits-Operationen und Kosmetika – alles, was uns einredet, dass wir nicht schön sind. Dann müssen wir Geld ausgeben, um uns dem anzunähern, wie wir sein sollten. Darum kommen wir nicht durch mit dem, was wir sagen. Weil dieser Industriezweig natürlich viel mehr Geld hat und viel mehr Werbung machen kann.

In einer idealen Welt: Welche Hebel hätten wir in der Gesellschaft, in den Medien und  den Familien mit Blick auf Ernährung und Körperideale umgelegt?

Was Gesellschaft und Medien angeht: Es wäre selbstverständlich, dass Models über die Laufstege laufen, die ganz unterschiedliche Körperformen haben. Und dass die Modeindustrie uns die Botschaft sendet: Es gibt viele Formen von Schönheit. Eher ein bisschen pummelig oder schlank. Wir sehen so viele Bilder von Frauen mit dieser einen Körperform: lange dünne Beine, ganz schmale Taille, dafür aber Brüste, also anatomisch eigentlich unmöglich. Dann müsste es auch in Filmen so sein, dass die Helden mal pummelige, wunderhübsche Mädchen sind, die ganz tolle Freunde finden. Und auch die Jungs, die Helden spielen, müssen nicht alle einen Waschbrettbauch haben. In der Serien- und Filmwelt oder in Shows wie Germany’s Next Topmodel müssten überall verschiedene Körperformen als Ideal und schön dargestellt werden. Dann hätten wir eine Prävention in Schulen, die ganz anders wäre: ohne Ernährungspyramide oder Informationen, was denn nun eine gesunde Ernährung ausmacht. Prävention müsste stattdessen bedeuten: Im Rahmen von Medienkritik lernen die Kinder etwas über Photoshop. Sie erkennen, was die Realität ist und was nicht. Die Medien sind ja nun mal da, daran können wir nichts ändern. Aber wir können unseren Kindern vermitteln, Bilder kritisch zu betrachten. Darüber hinaus würden wir in Schulen wieder Aspekte wie Freude am Essen und Gemeinschaft in den Fokus rücken. Auch beim Thema Bewegung sollte vermittelt werden: Sport macht Spaß! Und nicht: Sport verbrennt Kalorien…

Und in den Familien?

Da rückt der Genussaspekt wieder in den Mittelpunkt: Man kocht und isst zusammen und hat Freude daran. Es wird nicht so viel über die Inhalte der Nahrungsmittel gesprochen und es entsteht kein Druck auf die Kinder, bestimmte Sachen essen zu müssen. Die Eltern vermitteln ihren Kindern, dass verschiedene Körperformen schön sind. Und dass sie selbst schön sind, so wie sie sind. So können die Kinder in einer entspannten Atmosphäre ein natürliches Verhältnis zum Essen und ein gesundes Selbstwertgefühl in Bezug auf ihren Körper entwickeln.